Rasterfahndung – oder: Die Wiederkehr der Zeichen

Da ragen diese Papprohre hinauf zur Kamera, sie bilden einen kleinen Schatten, ein Fuß lugt seitlich von unten, rechts, links oder von oben ins quadratische Bild. Acht mal geschieht das, zusammen ergeben die acht Panele ein Gesamtbild, eine Komposition aus Rohr und Fuß. In einer der zahlreichen „Allegorie-Skizzen" Serge de Wahas tauchen die Füße des Künstlers wieder auf, paarweise von oben aufgenommen, lugen sie unter einem Kissenbezug hervor. Die einzelnen Fotografien sind diesmal hochformatig, quadratisch die Kissenform. Auch hier jedoch ist das Raster Grundmotiv eines bildnerischen Denkens, das alles andere als nur in logischen Koordinaten denkt. Stets kneift des Künstlers Allegorie diese trockene Logik – das Raster schafft ihm nur den nötigen Freiraum, dem verzweifelten Erkenntnisgewinn eine Sprache zu geben: Der Fuß vor einem Berg von Socken; in einem der seltenen Videos beide Beine bis zu den Schenkeln ins Bild ragend, nahezu regungslos scheinen sie in einer Badewanne zu liegen, der Künstler singt dazu. De Wahas Arbeiten zelebrieren die Wiederkehr des Gleichen als ebenso strukturales wie bedeutungsstiftendes Spiel.
In ihrem wegweisenden Essay „The Originality of the Avant-Garde" benannte Rosalind Krauss vor zwanzig Jahren die Struktur des „grid" als eine der maßgeblichen Kategorien der Avantgarde, sich quasi schon werkimmanent des Anspruchs der Originalität zu verweigern, um statt dessen eine Art Anti-Referenz, eine Stille zu erzeugen, die sich sowohl der Sprache als auch dem Narrativ entzieht.1 Die Auflösung jeglicher Hierarchien durch die Raster- oder Gitterstruktur aber, das Motiv der „repetition and recurrence", von dem Rosalind Krauss im Zusammenhang mit dem „grid" spricht, negiert nur partiell die Illusion eines sagbaren oder lesbaren Textes. Denn Wiederholung und Wiederkehr sind nicht per se Strategien einer sprachlichen oder erzählerischen Verweigerung, sie führen letztlich – sofern man im Jargon der Sprachwissenschaft bleiben möchte – zu einer neuen Bildgrammatik, welche sich zwar strukturell von gängigen Grammatiken unterscheidet, aber nichts desto weniger erzählende Züge behält.
Serge de Wahas fotografische Arbeiten sind keine Erzählungen im klassischen Sinne, deren Lesbarkeit an eine „unumkehrbare (logisch-temporale) Ordnung"2 gebunden wäre. Vielmehr handelt es sich um Arrangements einzelner Bilder, die strukturell das Raster eines größeren Ganzen herstellen, ohne jedoch eine unumkehrbare Leserichtung vorgeben zu wollen. Über ihren narrativen Zug ist damit noch nichts ausgesagt. Gerade die Wiederkehr gleicher oder ähnlicher Motive aber etabliert einen Bedeutungshorizont, der formale und inhaltliche Bezüge sucht und untersucht, sie nivelliert oder irritiert. Serge de Waha stellt im buchstäblichen Sinne die Erkenntnisleistung vom Kopf auf die Füße. Und diese Erkenntnisleistung geht weit über das rein sicht-bare, strukturale Muster hinaus: sie denkt stets die Bedingungen seiner Hervorbringung mit, das handelnde Motiv des Künstlers und den handelnden Nachvollzug durch den Betrachter.
Insofern füllen die fotografischen Handlungsspielräume erst eigentlich die Felder des Rasters, und zwar in einem durchaus narrativen Sinne. Indem er diese strukturalen wie erzählerischen Spielräume auslotet, ergänzt und erweitert, stellt de Waha seine Ordnung der Dinge vor. Den Dingen eignet der Charakter des „objet trouvé", des gefundenen Gegenstands, dessen Repetition jenseits bloß strukturaler Ordnungsmuster eine durchaus multiple Persönlichkeit entbirgt. „Ein Fuß ist ein Fuß ist ein Fuß" – diese Variante einer Phänomenologie der Dinge gilt weder für das einzelne fotografische Bild, noch für dessen Wiederkehr im Ganzen.
So besehen erschließt sich die Bildgrammatik Serge de Wahas als ein „grid" im krausschen Sinne, der aber durchaus die Möglichkeit neuer Sprachregelungen in Betracht zieht: Seine Arbeiten sprechen über die Repräsentationsfunktion der Fotografie, über die bildhafte Gleichzeitigkeit verschiedener Zustände, über die zu vermutende Beobachterperspektive des Fotografen sowie der Kamera, die – nicht nur körperlich -– an den handelnden Vollzug durch den Künstler gebunden bleibt. Es sind dies Voraussetzungen einer Rezeption, die dem Raster mehr abzugewinnen vermag, als bloß strukturale Erläuterungen. Der Gegenstand ist dabei ebenso signifikant, wie das Medium, der Akt des Fotografierens und die letztlich sichtbare Struktur des Bildes. In de Wahas achtzehnteiliger Arbeit „Die Macht des Schicksals" etwa kulminieren sämtliche dieser Aspekte auf bestechende Weise: Die nächtliche Wanderung durch die Wohnung wird dem Künstler – ausgerüstet mit Kopflampe und Kamera – zur detektivischen Spurensuche, einer Suche, während der die Spuren des Alltags über den handelnden Umgang mit dem Medium erst sicht- und beobachtbar gemacht werden.
In seinen jüngsten Arbeiten scheint jener Aspekt der Wiederkehr auf, der an die historisierenden Züge einer bildnerischen Aneignung gemahnt: Es ist jene Struktur des „Rasters", welche die Voraussetzungen des Bildes und die Existenz ganzer Bildtraditionen reflektiert.3 So rekurrieren die fotografischen Bilder Serge de Wahas auf die emblematische Ordnung der „Stars and Stripes", wie sie auf der US-amerikanischen Nationalflagge, aber eben auch in den „Flag-Paintings" von Jasper Johns erscheint. Der vermeintliche Realismus des fotografischen Bildes kopiert also, was seinerseits bereits eine Kopie ist. Oder besser: Er stützt sich gewollt oder unfreiwillig auf eine vorgeordnete Realität, die über den Bedeutungshorizont des jeweiligen Zeichens längst bescheid weiß. Sei es ein Ding, ein Fuß oder eine Flagge – die Wiederkehr der Zeichen gewinnt in den fotografischen Arbeiten Serge de Wahas die Kontur einer Bildgrammatik, die den Gegenstand nicht verrät, sondern ihn auf der Grundlage unseres Wissens in ständig neue bildsprachliche Konstellationen verstrickt.

Ralf Christofori 2002